Zeitreise nach Cesenatico zum Granfondo Nove Colli

20160521_170521
Es dürfte so ungefähr im Gründungsjahr 1971 des „Nove Colli“ gewesen sein, dass ich als Steppke auf der Rückbank des elterlichen Opel Rekords zum ersten Mal an die italienische Adria fuhr. Mit Betreten des Hotelzimmers in Cesenatico kamen viele verschüttete Erinnerungen wieder hoch, da dort offenbar die Zeit stehengeblieben ist: Möbel und Tapeten genau wie damals, ein Mini-Balkon in Richtung Hinterhof, im Flur vergilbte Fotos von schnauzbärtigen Fußballmannschaften und Radfahrern, die alle nach Fausto Coppi aussahen, im Bad das alte Phänomen, dass nach dem Duschen alles (samt Klopapier) schön eingeweicht war. Giovanni („… du kannst mich auch Hans nennen…“), der Hotelier, der mir noch recht kurzfristig einen Startplatz besorgt hatte, war dagegen ein echter Goldschatz, der vieles wieder wettmachte. Am Strand dieselbe gruselige Aneinanderreihung von Liegen, Schirmen, Kiosken mit Strandzubehör, Bademeisterhütten wie bereits früher – kilometerlang von Lido die Ravenna bis Cabbicce Mare. Nur diesmal ohne Teutonen. Die kommen wohl erst später im Jahr.
In Cesenatico gibt es noch eine weitere Zeitebene der Vergangenheit. Sehr vieles dreht sich um den bekanntesten Sohn der Stadt, Marco Pantani. Es gibt ein Pantani-Museum, eine Pantani-Statue und in jeder zweiten Kneipe hängen Erinnerungsfotos, Widmungen und andere Devotionalien von ihm. Was Elvis für Memphis ist, ist Pantani für Cesenatico.
20160521_195025 20160522_190431
 
Der Granfondo Nove Colli, der mich die Reise durch Norditalien nach einigen landschaftlichen und kulturellen Highlights (Dolomiten, Brixen, Bozen, Gardasee, Venedig, Ferrara, Ravenna, San Marino) an diesem, nun ja, auf den ersten Blick eher wenig ansprechenden Ort beenden ließ, ist schon speziell. Bereits Wochen vor der Aufnahme in die Startliste war ein sportärztliches Unbedenklichkeitsattest und eine eigenhändig unterschriebene Anti-Doping-Erklärung notwendig, wohingegen bei der Abholung der Startnummern keiner auch nur einen Identitätsnachweis sehen wollte. Die Veranstaltung ist ganz fest in italienischer Hand, unter den 13000 Startern befanden sich ein paar Österreicher, Holländer, Deutsche und Amerikaner, aber die machten gefühlt nur 10% aus. Wer seine Italienisch-Kenntnisse bisher aus Spliffs „Carbonara“ bezog, lernte unweigerlich weitere Vokabeln dazu. „Attenzione a destra“ (Achtung, von rechts kommt was), „attenzione a sinistra“ (Achtung, von links kommt was), „sali“ (Mineralgetränk) usw. Allerdings sind die Italiener auch nicht mehr das, was sie mal waren. Von wegen „bella macchina“ und „bella figura“. Klar waren einige Pinarello, Colnago, Bianchi und De Rosa am Start. Aber die Mehrheit aus dem Land der Hochkultur des Rahmenbaus fährt inzwischen Trek, Cannondale, Scott und – wer hätte es gedacht – Canyon. Dass für italienische Männer Rosa eine mehr als akzeptable Trikotfarbe ist, war mir bekannt, aber in Kombination mit unterschiedlich neonfarbigen Hosen, Schuhen und Socken finde ich das gewöhnungsbedürftig. Der erste Nicht-Italiener, der den Nove Colli gewann (2012), ist übrigens ein gewisser Bernd Hornetz aus Forchheim.
20160522_055430
Nach dem Start gab es aufgrund der riesigen Teilnehmerzahl erst einmal stockenden Verkehr, der zeitweise bis zum zweiten der neun Berge auftrat. Eilig durfte man es also nicht haben bzw. wenn, dann war es nicht ungefährlich, schnell durch die Menge zu kommen. Die oft engen und schlechten Straßenverhältnisse taten ihr Übriges dazu, dass am Straßenrand recht häufig Verletzte zu sehen waren, die auf Sanitäter warteten. Ein Höhepunkt war ungefähr bei Kilometer 100 ein wirklich alter, sehr hagerer Teilnehmer, ich schätze ihn auf 80 – 85, der offensichtlich seine Zähne zu Hause im Wasserglas gelassen hatte, vielleicht um Gewicht zu sparen. Er fuhr einen alten Stahlrenner mit Rahmenschalthebeln und trat, Hände am Unterlenker, stehend eine ziemlich schwere Übersetzung dauerhaft den Berg hinauf. Seine übrige Ausstattung (Wolltrikot, Riemenpedale) passte zur restlichen Aufmachung. Keine Ahnung, wie er es geschafft hatte, zu diesem Zeitpunkt noch vor uns zu sein. Vielleicht doch Fausto Coppi, der in Wirklichkeit noch lebt und vom Veranstalter aus Marketing-Gründen auf halber Strecke ausgesetzt wurde?
Die Versorgung rund um den Marathon war bemerkenswert gut. Es gab viele Mechanikerstationen und so viele Verpflegungsstellen mit Kuchen, belegten Brötchen, Ravioli etc., dass ich keinen einzigen Riegel und kein Gel anfassen musste (und auch garantiert kein Gramm abgenommen habe).
Dachte ich während des unfreiwilligen Bummeltempos zu Beginn und der ersten drei relativ harmlosen Anstiege noch, dass es eine recht gemütliche Fahrt würde, änderte sich dies mit steigender Hitze und zunehmenden Kilometern. Obwohl keiner der Berge über 800 m hoch ist, gibt es doch etliche fiese längere Rampen mit 17 -18 Prozent. Der letzte der neun Anstiege hat dann ganz am Ende vor der letzten Kuppe noch einen letzten langen Hochprozenter, bei dem einige kapitulierten und per pedes oben ankamen. Das haben sich die Organisatoren sehr schön ausgedacht! Hier zahlte sich die vorher montierte 34-28 Übersetzung aus. Dem Erfinder der Compactkurbel werde ich bei Gelegenheit mal einen ausgeben…..
Die wirklich superschöne Landschaft des Apennins mit zahlreichen Burgen und verschlafenen, alten Städtchen konnte für die Scheußlichkeiten an der Küste entschädigen, wenn man trotz der schlechten Straßenverhältnisse und der vielen Mitradler Blicke für sie übrig hatte.
Die letzten 25 -30 Kilometer gingen dann eben und streckenweise leicht bergab zurück nach Cesenatico. Vom dichten Feld zu Tagesbeginn war nun nichts mehr zu sehen. Die paar verstreuten Einzelkämpfer, die sich vor mir tummelten, wollten sich nicht zu einer gemeinsamen schnellen Fahrt ins Ziel animieren lassen, so dass ich nach 208 Kilometern und 3800 Höhenmetern ziemlich alleine in Richtung Ziel, Finisher-Trikot, Medallie und Pasta-Party fahren musste.
Der Sieger Igor Zanetti brauchte für die Strecke rund 3 Stunden weniger. Er hielt aber sicher nicht an jeder Verpflegungsstation 😉
novecolli